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Wer bin ich und wenn ja, warum?

Vom Geben

"Dann sagte ein Reicher: Sprich zu uns vom Geben. Und er antwortete: Ihr gebt nur wenig, wenn ihr von eurer Habe gebt. Wahrhaft gebt ihr erst, wenn ihr von euch gebt. Denn was ist eure Habe anderes als Dinge, die ihr aus Furcht, ihr könntet sie morgen benötigen, aufbewahrt und bewacht? Und morgen - was wird das Morgen dem übervorsichtigen Hund schon bringen, der Knochen im weglosen Sand vergräbt, während er den Pilgern zur heiligen Stadt folgt? Und was ist Frucht vor der Not denn anderes als Not? Ist nicht die Angst vor Durst, wenn euer Brunnen voll ist, erst der Durst, den nichts je löschen kann?" (Khalil Gibran: "Der Prophet", Seite 26 ff, 13. Auflage 2017; dtv).

„Ach wie gut, dass niemand weiß …“,

so beginnt die Kurzübersicht des Musters FÜNF in Wilfried Reifarths Buch „Wie anders ist der Andere?“. Mich jetzt hier zu zeigen, Farbe zu bekennen, mich in Frage stellen zu lassen und angreifbar zu machen, fällt mir nicht leicht. Eigentlich reicht der oben aufgeführte Text von Khalil Gibran zur Musterbeschreibung aus. Er beschreibt die Vorherrschende Leidenschaft, den Geiz, der Menschen des Musters FÜNF in eindrucksvoller Weise. So spricht Gibran von der Angst, nicht genug zu haben, von der Furcht zu geben und – im weiteren – von der Arroganz gegenüber den Mitmenschen: Themen der Menschen des Musters FÜNF. Aber wie Martin Buber mit dem Satz: „Du sollst Dich nicht vorenthalten“ ausdrückte, möchte ich an dieser Stelle nicht geizig sein, mich nicht verstecken und mit fremden Federn schmücken. Ich will von meiner Unvollkommenheit sprechen. Die Erfahrung zeigt mir, dass ein Bekennen und Dazu-Stehen, ein Bewusstmachen meiner inneren Architektur, zu einer Veränderung führt. Immer wieder tappe ich zwar in die gleichen Fallen, die sich aus der vorherrschenden Leidenschaft speisen und sich in unterschiedlichen Winkeln meiner Seele verstecken, ein Herauskommen gelingt jedoch auf der Zeitachse inzwischen deutlich schneller. Auch die Tendenz, alles mit mir selber auszumachen und nur das fertig durchdachte Ergebnis zu präsentieren, nimmt ab. Ich mute mich immer mehr zu, ernte dafür Anerkennung, Verständnis und Mitgefühl. Die Auseinandersetzung mit mir als Mensch des Musters FÜNF wird mich den Rest meines Lebens begleiten, denn die Herausforderungen des Lebens sind immer wieder neu.

Ein wirklich blinder Fleck war meine Arroganz, die sich ebenfalls aus der Vorherrschenden Leidenschaft GEIZ nährt. Ich habe immer gedacht, wenn ich nichts zu Gesprächen beitrage oder die Dinge nur kurz auf den Punkt bringe, dass dies niemanden stören kann. Ich fühlte mich nicht sicher dabei, von mir oder auch Dingen zu erzählen, die ich nicht ganz durchdrungen habe. Also ließ ich es lieber. Dass dieses Verhalten als arrogant betrachtet werden kann, war mir nicht klar. Schließlich habe ich niemanden verletzt, noch unnötig Zeit in Anspruch genommen.

Fremden Menschen gegenüber war ich zunächst ebenfalls sehr abwertend. Zeigen sie sich meiner würdig (und wer „würdig“ ist, entscheide ich), dann ist eine Begegnung möglich. Zeigen sie sich aus meiner Sicht dumm und einfältig, möchte ich nichts mit diesen Menschen zu tun haben. Dieses ist nicht nur arrogant, sondern auch menschenfeindlich. Mein Maßstab zum „in Kontakt treten“ liegt in mir.

Auch mein Abwehrmechanismus “Rückzug / Isolation” trägt eine Arroganz in sich. Um mich selbst zu schützen – weil ich tief in meinen Inneren unsicher und sehr sensibel bin – gehe ich bei Konflikten und Kritik an meiner Person in den Rückzug. Dies ist ein für den Anderen drastisches Mittel, da dieser keine Chance erhält, den Konflikt zu klären und im Kontakt zu bleiben. Ich verweigere mich an dieser Stelle, lasse den Anderen auflaufen und gehe entweder gedanklich oder auch körperlich aus der Situation. Sekundenschnell wird eine unsichtbare Mauer hochgezogen. Um nicht zu zeigen, wie verletzt ich bin und wie stark ich mit den Emotionen kämpfe, verlasse ich den Gefahrenbereich. In der Isolation bediene ich mich der Gefühlsspaltung und rationalisiere die Situation. So bekomme ich es hin, mich nicht von meinen starken Gefühlen überwältigen zu lassen, die Kontrolle zu behalten und nicht zu weinen. Von außen wird wahrgenommen, dass ich stolz erhoben Hauptes die Situation verlasse. Ich fühle mich dem Leben gegenüber oft nicht gewappnet und habe tatsächlich Angst vor Vernichtung durch den Anderen oder – milde ausgedrückt – vor Ablehnung. Keinen Platz in der Welt verdient zu haben, ist ein existenzbedrohendes Empfinden. Die Gedankenspirale dreht sich in mir, und erst wenn ich jedes kleine Detail für mich sortiert habe, gelingt es mir, mich wieder einzubringen. Mir geht es in solchen Situationen nicht gut, um aber mein Verhalten rechtfertigen zu können, schiebe ich zunächst die Schuld auf den Anderen. “Wenn der so blöd ist, dann kriegt er das auch nicht von mir”: eine Form des Geizes, in Arroganz verpackt. Leider hält diese Projektion nicht lange an. Danach beginnt die Selbstzerfleischung: „Wieder nicht geschafft, wieder ein Angsthase gewesen, wieder den anderen im Regen stehen lassen.” Die Situation wird durchdacht und sortiert, bewertet und reflektiert – bis ins kleinste Detail. Und auch dies ist eine Form des Geizes: sprichwörtlich ALLES wird bis ins Letzte ausgequetscht. Nichts darf an der Oberfläche verweilen, alles muss zwanghaft betrachtet werden, nichts kann einfach so entsorgt werden.

Spaß und Freude versage ich mir viel zu häufig. Freude über Rückmeldungen an mich werden stets durch meine Angst abgepuffert und erreichen mich nur in abgemilderter Form. Es existiert in mir ein Verbot, unmittelbar Freude oder generell positive Gefühle zu empfinden. Mein Automatismus zwingt mich dazu, mich genau zu beobachten und alle unlauteren Motive, die ich aufspüren könnte, zu betrachten. Die Ordnung in mir verlangt es, mich bis in die kleinste Ecke zu durchschauen und auf unlautere Einstellungen, die nur mir zu dienen scheinen, zu gucken: praktisch den letzten Bedeutungstropfen aus mir selbst herauszupressen – eine besonders perfide, wenn nicht perverse Form des Geizes. Ich möchte mir nicht vorwerfen können, wichtige Dinge nicht gesehen zu haben. Der Wunsch nach Echtheit und Tiefe zwingt mich in ein Korsett. Leider ist es auch so, dass ich sofort das Schlechte in mir wahrnehme. Wo andere sich gar keine Gedanken machen würden, lässt es mich nicht mehr los. Bei schwierigen Dingen sogar nachts nicht, deshalb soll ich eine Beißschiene tragen. Jede Situation, jeder Gedanke wird nochmal durchgekaut, um ja nichts übersehen zu haben, wofür ich verantwortlich gemacht werden könnte. Vorbereitet bis ins kleinste Detail, muss ich jeder Frage Antwort stehen können. Auch hier zeigt sich der Geiz wieder. Lob und Anerkennung sind schwer anzunehmen. Ich bin so selbstkritisch, dass der kleinste Fehler das Gesamtwerk kaputt machen kann.

Der zweite Abwehrmechanismus “Ich-Spaltung” der Menschen des Musters FÜNF führt dazu, dass ich mich und auch andere gleichzeitig positiv und auch negativ wahrnehmen kann. Hin- und hergerissen zwischen Größenwahn und absoluter Minderwertigkeit. Arrogant und von mir eingenommen fühle ich mich allen überlegen; denn nur ich habe mich so selbst durchdrungen und kenne mich bis in den kleinsten Winkel. Geht es mir nicht gut, kann ich mich in Selbsthass verlieren und mich für den schlimmsten Menschen der Welt halten, der tatsächlich keine Liebe verdient hat. Beide Richtungen haben letztlich nichts mit der Realität zu tun und speisen sich aus dem Geiz.

Oft fühle ich mich der Welt, den Menschen, nicht gewachsen und empfinde es als Zumutung, auf der Welt zu sein. Sinnfragen begleiten mich schon immer. Ich möchte die Welt nicht verändern, möchte die Dinge so erhalten wie sie sind. Im Umkehrschluss möchte auch ich nicht, dass von mir etwas verlangt wird. Folgendes habe ich als Neunjährige in das Poesiealbum meiner Mutter geschrieben: “Liebe Mama, lass mich in Ruhe Du kleiner Lümmel. In Liebe, Deine Tochter.“ Damals wusste ich noch nichts vom Enneagramm, habe aber deutlich das Bedürfnis nach In-Ruhe-gelassen-werden gespürt. Um dies nicht in aller Härte auszudrücken, habe ich es liebevoll verpackt, da wusste ich noch nichts von dem Hang der Menschen des Musters FÜNF, auch drastische Mitteilungen diplomatisch verpacken zu können. Bloß nicht über das Ziel schießen, nicht angreifbar sein, und wenn doch jemand die dahinter liegende Aggression wahrgenommen hat, mich rauswinden. Bloß nicht zeigen, welche Negativität sich in mir befindet. “Die Welt käme auch gut ohne mich aus, auf mich kommt es nicht an“. Diesen geringen Selbstwert bestimme ich. Meistens kann ich es gar nicht glauben gemeint, gemocht oder gar geliebt zu sein und zu hören, dass ich wirklich sehr fehlen würde, wäre ich nicht da. Ich fühle eine tiefe Sehnsucht, eine große Bedürftigkeit nach Gesehenwerden, nach Anerkennung und Wertschätzung, nach Dazugehören. Wird sie mir jedoch gegeben, kann ich sie nur abgepuffert wahrnehmen und nur kurze Zeit genießen und glauben. Es erstaunt mich zutiefst, wenn mir jemand Komplimente macht und mich wertschätzt. Die Welt auf der einen Seite – ich auf der anderen. So bleibt es bei einem separaten Ich und dem Zwang, alles autark machen zu müssen und zu können und die Welt nicht zu brauchen. So wie ich nicht geführt werden will, so will auch ich den Dingen ihren ungestörten Lauf lassen. Früher dachte ich, dies sei eine Entwicklung zur Gelassenheit. Dabei ist es ein Mich-aus-Angst-von-der-Welt-und-den-Reaktionen-der-Menschen-Fernhalten und keineswegs weise. So wie Buddha Erleuchtung erreichte, wäre ich kurz davor. Dass dies jedoch nur von meinem Ego vorgetäuscht wird, ist somit eine arrogante Einbildung.

Ich halte an allem fest, habe Angst es loszulassen, um nicht in Zukunft vor dem Nichts zu stehen. Mein Leben spielt sich nicht im Hier und Jetzt ab, sondern in der Reflexion des vergangenen Lebens, um Fehler für die Zukunft zu vermeiden oder in der Vorausschau der nächsten Zeit, um Dinge zu planen. Es ist eine tägliche Übung, mich im Hier und Jetzt zu wissen. Es ist jeden Tag eine bewusste Entscheidung, in einen echten Kontakt mit meinem Mitmenschen zu gehen, von meinem Tagesplan abzuweichen und das Leben auf mich zukommen zu lassen. In fast jeder Situation muss ich mir sagen: „Du hast ein Recht dazu. Du hast eine Verantwortung in dieser Welt und diese musst Du wahrnehmen“. Jeden Tag ist es eine bewusste Entscheidung anstatt Nein JA zu sagen. Es ist tatsächlich so, als ob ich der Welt gesagt hätte: “Von dir ist nichts zu bekommen, also gebe ich dir auch nichts.” Und da ich nichts bekomme, muss ich alles, was ich habe, für mich behalten. Trotzig wie ein kleines Kind verweigere ich mich dem Leben. Da ich selbst nicht mit meinen Bedürfnissen in Kontakt bin, bemerke ich die meiner Umwelt ebenfalls nicht. Ich gehe nicht in Resonanz, zeige mich stumpf anderen gegenüber. Schlimmer noch: Dinge die ich mir versage, sollen auch die anderen nicht bekommen. Zunächst dachte ich dies sei der Neid, aber es ist der Geiz, die Habsucht die sich hinter diesem NEIN an mich und an die anderen richtet. Mich für die anderen freuen, das musste ich erst lernen.

Mein großes Über-Ich hinderte mich daran, mich ins pralle Leben zu stürzen und mich lustvoll auf das Leben einzulassen. Die Vermeidung dieser Seelenanteile führte dazu, dass ich mir ständig die Schuld für alles gegeben und mich in einem überangepassten Zustand befand. In den letzten Jahren habe ich meinem Bedürfnis nach Lebendigkeit mehr Raum gegeben und mehr und mehr gespürt, dass ich mich nicht vor dem Leben verstecken und schützen muss. Es ist keine Katastrophe, Fehler zu machen und Dinge, die ich ängstlich vermieden habe, auszuprobieren. Es macht sogar Spaß, mich ohne Plan auf das Leben einzulassen und Erfahrungen zu machen, die unvorhersehbar waren. Das ist das Leben!! Es gehört zum Menschsein dazu, unvollkommen zu sein – und dies gilt auch für mich.

Anders ist mein Umgang mit mir und anderen geworden. Der menschliche Aspekt, die Liebe gegenüber den Menschen, ist viel mehr in den Vordergrund getreten. Sah ich früher oft nur die ängstliche Möglichkeit, das vermeintliche Bisschen geizig behalten zu müssen, erkenne ich zunehmend, dass Geben eine Bereicherung auf beiden Seiten bedeutet. Auch das harte Gericht in meinem Inneren wird zunehmend mit Eigenliebe betrachtet. So schaffe ich es immer mehr, meinem Dämon mit Liebe zu begegnen und negativen Emotionen durch ein deutlich formuliertes NEIN zu entgehen. Für meine weitere Entwicklung bin ich auf Menschen angewiesen, die mir ein klares Feedback geben und mit denen ich gemeinsam wachsen kann. Menschsein bedeutet mir inzwischen deutlich mehr, als ich dies je gedacht hätte. Langsam lerne ich, mich selbst zu lieben, denn ohne Selbstliebe kann ich die anderen Menschen nicht wirklich lieben. Durch die Worte Martin Bubers habe ich gelernt, dass es in jedem Menschen – ja in jedem, also auch in mir! – etwas gibt, dass es zuvor noch nicht gegeben hat. Dies zu erkennen und zu respektieren und Konsequenzen für mein Leben zu ziehen, ist meine Lebensaufgabe. Ich bin es wert.

Ich bin ein Mensch des Musters FÜNF und stehe dazu.                                                     

Marie-Sophie

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