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Die enneagrammatische Perspektive in der Kleinkindpädagogik

Nachfolgendes Interview zur Arbeit mit dem Enneagramm im Kontext der Kleinkindpädagogik wurde am 16. März 2014 in Hünfeld (St. Bonifatiuskloster) geführt. Im Gespräch sind Berit-Katharina Spletter (BKS) und Uwe Martin Fichtmüller (UMF). 

UMF: Vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, zum Thema Enneagramm im Kontext der Kleinkindpädagogik mit mir ins Gespräch zu kommen. Bevor ich aber mit den inhaltlichen Fragen beginne, würde mich natürlich zunächst interessieren, in was für einer Einrichtung du arbeitest, als was du dort arbeitest und wie lange du dort arbeitest.

BKS: Seit 2009 arbeite ich in einer integrativen Kindertagesstätte, allerdings im Krippenbereich und dort bin ich als Erzieherin und Gruppenleitung tätig. Ich arbeite in einer Gruppe mit 15 Krippenkindern.

UMF: Wie kamst du dazu, den "enneagrammatischen" Blick in deiner Arbeit mit Kleinkindern anzuwenden?

BKS: Mit dem Enneagramm kam ich über meine neue Arbeitsstelle seinerzeit in Kontakt. Eine Kollegin brachte das Thema Enneagramm in unsere Arbeit zunächst zum Thema Teambildung ein. Ich kam dann später zu der Enneagrammgruppe von Wilfried Reifarth dazu. Dort habe ich dann angefangen, mich intensiver mit dem Enneagramm auseinanderzusetzen, mich auch aus enneagrammatischer Sicht zu beobachten. Mit der Zeit kam dann auch ein enneagrammatischer Blick auf die Kinder dazu.

UMF: Wird die Arbeit mit dem Enneagramm in der gesamten Einrichtung / im gesamten Team angewandt?

BKS: Nein, die Arbeit wird nicht im gesamten Team angewandt. Die ursprüngliche Idee der Leitung, dass alle Mitarbeiterinnen das Enneagramm in der Arbeit nutzen sollten, setzte sich nicht durch, da das Enneagramm in erster Linie als ein Instrument der Selbsterkenntnis genutzt werden sollte, bevor der Blick auf den Anderen und sein Muster gerichtet wird.

UMF: Wie hat das Enneagramm dein Bild vom Kind verändert?

BKS: Das Enneagramm hat in erster Linie mir selbst neue Einblicke in mein Bild von mir persönlich geliefert. Dadurch, dass ich mich selbst auf eine mir bisher neue Art gelernt habe mich zu sehen bzw. zu beobachten, hat sich dann automatisch meine Art, die Kinder zu sehen, verändert. Über das bewusste Beobachten und Innehalten in Alltagssituationen in Bezug auf meine Handlung, meine Empfindung und meine Reaktion setzte dann der gleiche Prozess auch in der Wahrnehmung der Kinder ein.

UMF: Wie hat das Enneagramm dein Selbstverständnis als Kleinkindpädagogin und dein konkretes pädagogisches Handeln verändert?

BKS: Dadurch, dass ich erkannt habe, dass ich immer durch meine ZWEIer-Musterbrille schaue, habe ich dann zunächst darauf geachtet, meine ersten Impulse im pädagogischen Handeln bewusster wahrzunehmen und gegebenenfalls zunächst meinen inneren Beobachter einzuschalten, anstatt wie zuvor, automatisch beispielsweise meinem Helferimpuls nachzugeben, ohne abzuwägen, inwieweit mein Einsatz vom Kind gerade überhaupt eingefordert oder auch erwünscht ist. Ich kann ein Beispiel nennen: In Alltagssituationen wäre das zum Beispiel das Anziehen der Kinder in der Garderobe, da dann innezuhalten und zu schauen, wie macht das Kind das, äußert das Kind überhaupt den Wunsch nach Unterstützung oder möchte es sich selbstständig weiter anziehen und rumprobieren. Oder, Kinder streiten sich um ein Spielzeug, ein Konflikt entsteht. Können die Kinder das auch alleine miteinander lösen, brauche ich gegebenenfalls erst gar nicht einzuschreiten? Oder auch, wenn sich ein Kind mit dem Essen oder dem Besteck abmüht. Zu sehen, möchte das Kind überhaupt Unterstützung haben oder will es eben selber weiter üben, selber zu essen.

UMF: Kannst du bereits bei Kleinkindern die Tendenz zu einem der neun Muster erkennen? Woran machst du das fest und welche Schlussfolgerungen ziehst du für deinen Umgang mit den Kindern daraus?

BKS: Vorrangig würde ich von einer Tendenz sprechen und das Wort würde ich auch unterstreichen. Da ich ja gelernt habe, vorsichtig mit Musterzuschreibungen zu sein, sammle ich eher Eindrücke im Alltag und spreche von meinen Beobachtungen, auch meinen Kollegen gegenüber. Ich beobachte die Kinder wie sonst auch bei ihren Handlungen, höre genau hin, was sie an Wünschen und Bedürfnissen äußern. Ja, ein kleines Beispiel könnte ich nennen. Eine Tendenz in Richtung Muster VIER: Wir haben aktuell ein Kind in der Gruppe, das immer extra zum Morgenkreis eingeladen werden möchte, das halt so lange wartet, bis alle anderen Kinder sitzen und dann nochmal explizit angesprochen werden möchte. Dieses Kind hat auch inzwischen ein eigenes andersfarbiges Sitzkissen, und es darf auch gerne im Morgenkreis vortanzen und freut sich dann sehr über die Bühne.

In Richtung Muster EINS hätten wir ein Kind, das von Anfang an gerne geordnet hat. Schon bevor es laufen konnte, hat es darauf geachtet, dass die Schubladen immer wieder geschlossen werden, das Spielzeug ordentlich weggeräumt wird, und es freut sich im Alltag riesig über Aufgaben, die mit dem Thema "Ordnen" zu tun haben.

Ein Kind vom Muster ZWEI ist zum Beispiel häufig sehr stolz anderen zu helfen, unterstützt jüngere Kinder beim Anziehen, achtet im Alltag darauf, dass alle versorgt sind, sagt Bescheid, wenn zum Beispiel beim Essen die Trinkflasche fehlt oder runtergefallen ist. Ich gebe dem Kind dann Aufgaben, die es bewältigen kann, zum Beispiel einen Kinderwagen hin- und herzuschieben, und das scheint es sehr glücklich zu machen.

Ein Kind vom Muster FÜNF wirkt auf mich grundsätzlich eher zurückhaltend in neuen Situationen, beobachtet erst genau, bevor es selber etwas ausprobiert. Dieses Kind sieht auch morgens im Morgenkreis, wer fehlt und äußert das auch. Das Kind ist fachlich sehr interessiert an Autos und Treckern, obwohl es noch sehr klein ist. Kennt auch schon die korrekten Namen davon, weiß, wo und wie sie eingesetzt werden, soweit wie es das äußern kann. Ja, und dieses Kind braucht häufiger Rückzugsmöglichkeiten, wenn es mal zu laut, zu viel, zu hektisch wird und äußert das auch. Das heißt, für dieses Kind haben wir immer eine kleine Ecke parat, eine kleine Kuschelecke, wo es sich dann auch alleine zurückziehen darf. Ja, und was mir bei dem Kind des Musters FÜNF noch auffällt: Es unterhält sich im Vergleich zu anderen Kindern sehr gerne mit Erwachsenen.

Muster NEUN könnte ein Kind aus unserer Gruppe sein, das auf mich eher entspannt im Alltag wirkt, ausgeglichen, sich nicht auf Konflikte unbedingt einlässt. Wenn beispielsweise ein Spielzeug weggenommen wird, dann dreht es sich um, gelassen, und sucht sich ein anderes Spielzeug. Und es braucht häufiger Zeit für den nächsten Schritt im Alltag.

In Bezug auf den Umgang mit Kindern habe ich das ja schon ein wenig durchklingen lassen. Offenheit ist wichtig, die Bereitschaft hinzuschauen, sich selbst zu beobachten und auch immer zu schauen, was löst denn das Verhalten des Kindes eigentlich in mir aus, und darauf dann entsprechend zu reagieren oder es eben auch zu lassen.

UMF: Angenommen, du würdest ein Kind aus deiner Gruppe fragen, was im Kontakt mit dir anders ist, seit du dich mit dem enneagrammatischen Modell beschäftigst oder ganz und gar arbeitest: Was würde es sagen?

BKS: Das Kind würde in meiner Erwachsenensprache sagen, dass ich gelassener geworden bin, weniger hektisch im Alltag, offener, abwartender, individueller blickend, nicht mehr im Sinne von "Alle müssen mitmachen" oder "Alle müssen jetzt das Gleiche machen". Und grundsätzlich habe ich inzwischen mehr Spaß und mehr Freude bei der Arbeit.

UMF: Wendest du den "enneagrammatischen Blick" auch in der Arbeit mit Eltern an? Wenn ja, auf welcher Ebene, und wie reagieren die Eltern darauf?

BKS: In erster Linie achte ich bei der Arbeit mit den Eltern immer darauf, dass ich möglichst bei mir selbst bleibe bzw. in Elterngesprächen natürlich auch Informationen über das Kind gebe: Was ich aus meiner Wahrnehmung heraus beobachtet habe, das teile ich mit. Es ist inzwischen allerdings so, dass ich weniger Fragen stelle und dazu neige, mehr hinzuhören, was die Eltern von sich selbst und der Familie zu sagen haben. Und ich würde sagen, dass ich teilweise vielleicht Mustertendenzen wahrnehme und dann entsprechend darauf versuche zu reagieren. Vorrangig geht es mir allerdings in der Arbeit mit den Eltern darum, authentisch zu sein und bei mir zu bleiben.

UMF: Wie würdest du den größten Nutzen beschreiben, den du durch die Anwendung des Enneagramms in der Arbeit mit Kleinkindern gewonnen hast?

BKS: Ich würde sagen, dass ich mehr Gelassenheit im Alltag habe, dass ich mich aus meinem Muster ZWEI heraus nicht mehr automatisch für alles verantwortlich fühlen muss, dass mein Blick offener geworden ist und dass ich mehr darauf achte, was zeigt das Kind von sich aus von sich. Das heißt, ich glaube ein Stück weit wertfreier wahrnehmen zu können, und ich achte weniger als vorher darauf, was kann es schon und was kann es nicht im Sinne von Defiziten, sondern eher, was zeigt es von sich, was ist an Energie in welchem Bereich wahrnehmbar, und was bringt das Kind mit und was äußert das Kind.

UMF: Würdest du KollegInnen empfehlen, das Enneagramm in der Kleinkindpädagogik einzusetzen?

BKS: Ich würde es insofern empfehlen, als das die Bedingung immer wäre, grundsätzlich sich selbst zunächst mit dem Enneagramm und dem Finden des eigenen Musters zu beschäftigen. Meine persönliche Erfahrung ist, je mehr ich mir selbst in meiner Wahrnehmung näher komme, desto mehr nehme ich dann auch meine Mitmenschen und Kinder bei der Arbeit wahr. Und je offener, großzügiger und liebevoller ich im Umgang mit mir selbst und meiner "Vorherrschenden Leidenschaft" bin, desto leichter fällt es mir auch, entsprechend die Haltung anderen Menschen gegenüber zu entwickeln. Und ich würde gerade bei Kleinkindern vorrangig auf die Energien achten und eher Tendenzen und Vermutungen äußern, um weiterhin offen für die Entwicklung zu bleiben.

UMF: Welche Voraussetzungen würdest du empfehlen, um das Enneagramm als eine Arbeitsgrundlage für die Arbeit und den Alltag mit Kleinkindern einzuführen?

BKS: Ich habe es bereits mehrfach anklingen lassen. Also ich glaube, Grundvoraussetzung ist, die Bereitschaft zur Selbstbeobachtung und auch vorrangig die Bereitschaft, sich mit dem eigenen Muster intensiv auseinanderzusetzen bzw. mit der eigenen Musterfindung. Und aus meiner Sicht ist das die Arbeitsgrundlage, um das Enneagramm auch im Alltag mit Kleinkindern einzuführen.

UMF: Wo hat die Arbeit mit dem Modell des Enneagramms seine Grenzen?

BKS: Die Arbeit mit dem Modell des Enneagramms hat grundsätzlich seine Grenzen in der Wahrung des Ethischen Kodex. Den haben wir bei uns in der Enneagrammgruppe auch von Wilfried Reifarth erhalten und vorrangig wäre zu sagen, das Enneagramm beschreibt einen Menschen niemals vollständig.

UMF: Vielen Dank Berit für deine Bereitschaft, dich meinen Fragen zu stellen und mich an deinen Erfahrungen teilhaben zu lassen.

BKS: Ja gerne.

 

Berit-Katharina Spletter, Erzieherin & Enneagrammlehrerin

Uwe Martin Fichtmüller, Dipl.-Sozialgerontologe & Enneagrammlehrer

 

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